5.4 Stadterweiterungen im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts


Das sechste Jahrzehnt des 19. Jahrhundert hat im prosperierenden Sachsen die erste Gründerepoche heraufgeführt. Reichtum und Luxus wuchsen stark an, besonders in Dresden, wo sich vornehmlich vermögende Ausländer und Pensionäre wegen der landschaftlichen und kulturellen Vorteile der Stadt über längere Zeit niederließen. Dieser besonderen soziologischen Struktur in der Residenzhauptstadt, die außer vom Hof und den Industriellen von einer großen Zahl höherer Beamter, Offiziere, Diplomaten und Künstlern geprägt wurde, ist es zuzuschreiben, daß Dresden zum Ende des Jahrhunderts eine der reichsten Städte Deutschlands wurde. Dies spiegelt sich auch im Städtebau wider. Nicht nur die günstigen Rahmenbedingungen der Bauregulative bzw. des Generalbauplanes, sondern auch der Ehrgeiz bürgerlicher Repräsentation schufen elegante und noble Villenvororte. Das hohe Maß an künstlerischer Qualität der dort wirkenden Architekten und Bauhandwerker tat ein übriges dazu, den Ruf Dresdens als eine der schönsten Städte Europas zu mehren.
Selbst in den sogenannten Arbeiterbezirken, die es in Dresden in reiner Form nie gegeben hat, da sich die verschiedensten Schichten in den Wohngebieten mit geschlossener Bebaung mischten, wurden die Häuser-fassaden oft mit teurem Sandstein verkleidet. Hinterhofschachtelungen wurden durch die gemäßigte Aufteilung der Karrees in nicht allzu große Blöcke vermieden. Zwar gab es immer noch drückende Wohnungsnot, die besonders in den dicht besiedelten Innenstadtbereichen spürbar wurde, aber die krasseste Armut war mit aufblühender Industrialisierung über-wunden. Der soziale Wohnungsbau in Dresden wurde durch eine großzügige Stiftung des sächsischen Industriellen Johann Meyer zu Beginn der Siebziger Jahre initiiert, der preiswerte Wohnungen westlich der Sächsisch- Schlesischen Bahnlinie errichten ließ.(167)

Als Beispiele für die Dresdner Stadterweiterung in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts sind besonders zwei Gebiete hervorzuheben, die sich zu anspruchsvollen Wohnquartieren entwickelten. Zum einen das sogenannte Preußische Viertel auf Neustädter Seite jenseits des Priessnitz- Flusses und zum anderen das Schweizer Viertel südlich des Böhmischen Bahnhofes.
Der Übergang zur geschlossenen Bauweise am Beginn der frühen Gründerzeit läßt sich gut am Beispiel der Südvorstadt nachvollziehen.

5.4.1 Preußisches Viertel und Loschwitz

Das Preußische Viertel, benannt möglicherweise nach den im Raum Berlin/Potsdam angewandten und übernommenen Architekturformen, entstand zu Beginn der 50er Jahre durch planmäßige Erschließung. Östlich der Antonstadt und nördlich der Bautzner Landstraße (Abbildung Nr.11 - Dresden 1898), an der bereits im 18. Jahrhundert Garten- und Landhäuser errichtet worden waren, knüpfte man an schon bestehende Bebauung an. Die vorteilhaften klimatischen Bedingungen der windgeschützen Sonnensüdseite und die angrenzende Dresdner Heide begünstigten die Entwicklung des Viertels. Nicht zuletzt jedoch zog die südlich-mediteran anmutende Landschaft mit Blick auf die grünen Elbhänge und den vorbeiziehenden Strom Grundstücksinteressenten an.
Im Laufe von einigen Jahrzehnten wurden die Hänge bis zum Vorort Loschwitz in offener Bauweise villenartig bebaut. Den architektonischen Höhepunkt der entstehenden Park- und Villenlandschaft bildete das 1850-54 errichtete Schloß Albrechtsberg für den preußischen Prinzen Albrecht. An den prachtvollen Bau mit seiner ausladenden Terassenanlage schlossen sich zwei weitere Schlösser an, die Villa Stockhausen und das neogotische Schloß Ekberg.
Städtebaulich stellt die Bebauung des preußischen Viertels und der Elbhänge außerhalb des städtischen Zollbezirkes erneut einen Glücksfall dar, konnte doch durch verschiedene Regulative eine wohlproportionierte Bebauung in guter Maßstäblichkeit zur umgebenden Landschaft erreicht werden.(168) Wie schon in den früheren Regulativen wurden streng überwachte gestalterische Leitlinien vorgegeben, so z.B. zur Lage des Wohngebäudes im Grundstück, zur Straße und zur Nachbarbebauung. Abgesehen von den drei Schlössern, die sich harmonisch in die Hügel einfügen, bewirkten diese Regulative eine Höhenbegrenzung. Gestattet wurden nur zwei Stockwerke, wobei das Hauptgeschoß allerdings mindestens 6 Ellen betragen mußte.
Die Erhaltung der heiteren, anmutigen Landschaft verdankt man auch dem Umstand, daß in diesem Stadtteil weder Eisenbahnanlagen vorbeigeführt, noch irgendeine Form von Industrieansiedlung gestattet wurde. Die 1838 erbaute Waldschlösschenbrauerei und eine Cichorien- und Ölfabrik (seit 1820) an der Priessnitz-Brücke blieben Ausnahmen.

5.4.2 Schweizer Viertel

Auch zwischen den Landstraßen nach Chemnitz und nach Dippoldiswalde (ab 1861 Bergstraße), jenseits der Sächsisch- Böhmischen Bahnlinie (Abbildung Nr. 10, Dresden 1874) entwickelte sich ab 1851 ein neuer Stadtteil. Im Zuge des bereits beschriebenen Prozesses einer "Stadtflucht" siedelten sich auch hier mehr und mehr Bürger in landschaftlich reizvoller Gegend außerhalb der Stadtgrenze an. Die Flächen an den Ausfall-Chausseen nach Plauen und Dippoldiswalde bildeten dabei Ausgangspunkte der Inbesitznahme der umgebenden Feldfluren. Die beiden Straßen boten zudem den Vorteil, daß sie den barriereartigen Bahndamm überquerten, während andere Straßen durch die Bahntrasse unterbrochen wurden.(169)
Im Fall des Schweizer Viertels stellte das sanft ansteigende Gelände mit Blick auf die Türme der Stadt ein bevorzugtes Gebiet dar, so daß die ersten Häuser bereits vor 1850 an der Chemnitzer (später Berg-) Straße entstanden waren, darunter auch sozialfürsorgliche Einrichtungen wie das Taubstummen- und Blindeninstitut.
Ähnlich wie im Englischen Viertel griffen aber die Baupolizeibehörden alsbald planerisch- ordnend in die Stadterweiterung ein und klärten mit dem Regulativ vom 16. August 1851 die weitere Abwicklung der Flurbebauung, die bereits mit Grundstückskäufen und Straßenlanderschließung im vollen Gang war.(170) Innerhalb von ca. 10 Jahren entstand ein kleines Karree von fünf Straßen - die Hohe-, Blinden-, Kaitzer-, Garten- und Schweizer Straße - letztere benannt nach dem Restaurant "Schweizer Haus".
Gemäß den Leitgedanken des Generalbauplanes wurde auch hier die offene Bauweise vorgeschrieben. Bei dem System des Straßengrundrisses wählte man wieder das rationale, rechtwinklige Aufteilungsmuster, obwohl bei der leicht ansteigenden Hanglage eine geschwungene Straßenführung vorteilhafter gewesen wäre.
Die in ihrer Massierung etwas eintönig wirkende, geradlinige Raumgestaltung dieses Viertels, das sich bis zur Jahrhundertwende südlich bis nach Plauen ausdehnte, wurde lediglich durch einige Plätze aufgelockert, die allerdings erst in den 80er und 90er angelegt wurden, so z.B. der ovale Platz, das sogenannte Nürnberger Ei.

5.4.3 Übergang zur geschlossenen Bauweise, Beispiel: Südvorstadt

Wie schon bemerkt, war im Generalbebauungsplan festgelegt worden, daß Zonen verschiedener Bebauungsart das Stadtgebiet gliedern sollten. Im inneren Bereich, der mittlerweile das Gebiet bis zur Eisenbahn umfaßte, sah man eine kompakte, geschlossene Bebauung vor. Im äußeren Bereich sollte eine offene Bebauung den Übergang zur unbebauten Landschaft bilden.
Auf Grund der rapide ansteigenden Bevölkerung ließ sich jedoch dieses Konzept nicht durchhalten. Grundeigentümer und Stadtverordnete wiesen in den 60er Jahren auf die kostspielige Form der offenen Bebauung hin, die besonders durch das erforderliche weitläufige infrastrukturelle Versorgungsnetz zustande kam.(171) Nicht zuletzt mischten sich diese Hinweise mit dem eigenen Interesse, Grund und Boden effektiver auslasten zu können.
Die Oberbehörde beugte sich diesen Argumenten und stimmte bereits 1862 dem Vorschlag des Rates zu,

daß jenseits des für die pavillonartige Bebauung bestimmte Terrains wieder nach dem sich ergebenden Bedürfnisse eine Bebauung der freien Plätze und beziehentlich auch der Straßen mit geschlossenen Häuserreihen im Straßenalignement erfolgen" darf.(172)

Das neue Stadtbaukonzept sah nun vor, daß die verschiedenen Bebauungsweisen, um eine größtmögliche Ordnung und Regelmäßigkeit zu gewährleisten, einander gruppen-, straßen- und blockweise ablösen sollten.(173)
Der Entschluß, das freie Gelände außerhalb der offenen Bauweise künftig für eine geschlossene Bebauung freizugeben, bedeutete eine krasse Abwendung von der im Generalbebauunsplan gerade konzipierten Stadtstruktur. Das Zubauen der ländlichen Umgebung mit "Mietskasernen" kam einer Kapitulation und einem radikalen Bruch mit den bisherigen stadtplanerischen Idealen nahe. Doch die neuen Bedingungen der zur Großstadt angewachsenen Gemeinde schienen diese Kurskorrektur zu erzwingen. Seit der Jahrhundertmitte war Dresdens Bevölkerung schließlich um 73 000 auf 177 000 Einwohner angestiegen.(174) Ein forcierter Massenwohnungsbau und die Zulassung von Ballungsgebieten außerhalb des Zentrums waren nicht mehr zu umgehen.
Ein weiterer Grund für die Veränderung war die gewandelte Auffassung von Stadtgestaltung und -ausnutzung. Mit Anbruch der Moderne(175) hatte sich der Prozeß einer "Citybildung" beschleunigt. Verschiedenste Handels- und Gewerbeeinrichtungen beanspruchten z.B. Ladenräume in den Erdgeschoßzonen, zumal an einem so starken Kristallisationspunkt wie dem Böhmischen Bahnhof, hinter dem die Südvorstadt entstehen sollte. Die geschlossenen Häuserfronten demonstrieren so auch die Rückkehr zu einem urbaneren Stadtkonzept. Dieses zeichnet sich gegenüber der zentral- peripheren Gliederung der alten Residenzstadt durch eine Vielzahl neuer städtischer Konzentrationspunkte aus.
In dem Regulativ für das Gebiet östlich der Bergstraße von 1867 gestattete deshalb die Bauverwaltung aus den genannten Gründen zum ersten mal außerhalb des Environweges eine Bebauung mit geschlossenen Häuserfronten (Abbildung Nr. 11, Dresden 1898).(176) Eine maximale Ausnutzung der Grundstücke und damit eine ungebremste Spekulation schränkte sie jedoch durch verschiedene Regelungen ein.
So gestattete man an den Hauptstraßen eine Höhe von höchstens 32 Ellen (ca. 16 m) bis zur Simstraufkante. Seiten- und Querflügelgebäude dürften zueinander den geringsten Abstand von maximal zwei Drittel der Höhe des Vorderhauses nicht unterschreiten, d.h. mindestens 21,2 Ellen (= 10,5 m). Mit dieser Bestimmung gewährleistete die Baubehörde zwar noch genügend Licht und Luftzufuhr, allerdings findet sich in dem Regulativ kein Hinweis mehr auf die Anlage von Gärten in den Höfen; dies blieb der Initiative des Bauherrn überlassen.

Die Aufgabe der offenen Bebauungsweise ab den späten 60er Jahren des 19. Jahrhunderts war eine Reaktion auf die zum großstädtischen Industriezentrum aufgestiegene Landeshauptstadt. Das neue Stadtkonzept der geschlossenen Bauweise hielt sich jedoch nur etwa drei Jahrzehnte und wurde von den sozialreformerischen Ideen der Gartenstadtbewegung um die Jahrhundertwende allmählich abgelöst, die vom Dresdner Vorort Hellerau auf ganz Deutschland ausstrahlte. Zudem muß einschränktend gesagt werden, daß auch in der Gründerzeit weiterhin freistehende Villen errichtet wurden. Die Mehrzahl der Bevölkerung aber wohnte in mehrstöckigen Mietshäusern.


(167) Vgl. F. Löffler, Das Alte Dresden, S. 386.
(168) z.B. der Regulativ über die Bebauung des Terrains zwischen der Forst- und alten Radeberger Straße, 1.9.1861, in: Sammlung, S. 172, sowie der Regulativ über die Bebauung des zur Societäts- brauerei zum Waldschlösschen gehörigen, zwischen Schiller- und der (alten) Radeberger Straße gelegenen Terrains, 1.2.1863, in: Sammlung, S. 176.
(169) Die ebenfalls Anfang der 50er Jahre begonnene Bebauung der Landstraße nach Tharandt und Freiberg wurde z.B. durch die abschneidende Wirkung der Eisenbahn in ihrer Entwicklung bis in die 90er Jahre gehemmt.
(170) Regulativ für die Bebauung des vor dem Plauenschen Schlage links der Plauenschen Chaussee gelegenen Terrains, 16.8.1851, in: Sammlung, S. 153.
(171) RA, A XXIII 226, Bd.II, Den allg. Stadtbauplan betr., 3.6.1864.
(172) HSTA, MdI 11 514, Den allg. Stadtbauplan von Dresden betr. 1859 - 79, 9.8.1862.
(173) Auch dies war im Städtebau der frühen Gründerzeit keine Selbstverständlichkeit. In vielen Städten verursachte das Durcheinander von freistehenden Villen und hohen, aneinandergereihten Miethäusern oft ein unregelmäßiges Bild. Insbesondere bietet das Bild amerikanischer Städte dieser Zeit ein buntes, wechselhaftes Nebeneinander verschie- denster Bautypen, wo die ersten sky- scraper neben zweistöckigen Reihenhäusern entstehen.
(174) Bevölkerungsentwicklung Dresdens bis zur Gründerzeit: 1855: 108 966; 1861: 128 152; 1867: 156 024; 1871: 177 040.
(175) Der Epochebegriff "Moderne" soll in diesem Zusammenhang als Beginn der Neuzeit um 1800 verstanden werden. Im engeren Sinn umfaßt hier Modernität den Ausdruck eines neuen Zeit- empfindens ab 1830 bzw. einer tatsächlichen beschleunigten Veränderung ab ca. 1850. Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch- sozialen Sprache in Deutschland, Bd.4, Stuttgart 1978, S. 109- 119.
(176) Regulativ über die Bebauung des zwischen der Bergstraße und der Sächsisch- Böhmischen Staateisenbahn gelegenen Terrains, 15.11.1867, in: Sammlung, S. 189.