Dresden Neustadt 1837/52.
Mittelpunkt ist der große Rundplatz: Bautzner Platz (Albertplatz) mit der neuen offenen Bauweise
Das neue Stadtbaukonzept: offene Bebauungsweise

Durch anhaltende Kriegseinwirkungen und wirtschaftliche Schwäche des Landes war es in Dresden in den zurückliegenden Jahrzehnten zu keiner nennenswerten Bautätigkeit in der Stadt gekommen.(33)
Als man nun tatsächlich begann, das kostspielige Projekt des Festungsabrisses in die Tat umzusetzten, war die Gelegenheit gegeben, das freigewordene Gelände der Neustädter Wallanlagen, die wesentlich mehr Platz einnahmen als die Altstädter Festung, für neue Wohnanlagen zu nutzen. Aber eine konventionelle Bebauung mit geschlossenen Häuserreihen, wie es eine organische Weiterführung der Hauptstraße mit zusammenhängenden Straßenwänden durchaus nahe gelegt hätte, fand nicht statt. Inzwischen hatte man den landschaftlichen Reiz der topographischen Situation Dresdens erkannt und ließ diese Erfahrung als neue Qualität in den Stadtbau einfließen.
In bewußter Absetzung von der dichten Bebauung der barocken Kernstadt wurde von der Demolierungs-Kommission beschlossen, für die Flächen der ehemaligen Festungsmauer in der Neustadt ausschließlich Gebäude in lockerer, offener Bauweise vorzusehen. Das neue Stadtbaukonzept sollte sich durch einen ländlichen Gartencharakter auszeichnen. In den Vererbungsvorschriften für das freie Terrain heißt es:

Auf den bereits vererbten Plätzen zwischen dem Weißen und Schwarzen Tor soll der Gartencharakter möglichst erhalten werden und das städtische Dicht-zusammenwachsen verhindert werden. Es ist also nicht der Erbau großer Stadthäuser, sondern die Erbauung kleiner Villen zu wünschen und fördern.(34)

Dabei wies man ausdrücklich darauf hin, daß die neuen, frei stehenden Wohnhäuser "in die Mitte der äußeren Grundstücksgrenze gestellt werden" und die Grundstücke nicht unterteilt werden dürfen.(35) Damit sollte verhindert werden, daß das neue Quartier in kurzer Zeit seine städtebauliche Ordnung verlöre und, wie man im angrenzenden Gebiet des Neuen Anbau sehen konnte, ein ungefügtes Durcheinander von Vorder-, Seiten- und Hinterhäusern entstünde.
Auffällig ist, mit welch radikalem Bruch sich die Demolierungs-Kommission von stadtplanerischen Traditionen abwandte, die doch bisher zu höchst eindrucksvollen Stadtkompositionen geführt hatten. Die geschlossenen barocken Bürgerhausreihen von Königs- und Hauptstraße, von Palaisplatz und Neustädter Markt besaßen beispielsweise eine selten gelungene Harmonie des Raumklanges.(36)
Das neue Stadtbaukonzept reagierte erst einmal auf die veränderte räumliche Situation. Während sich im 18. Jahrhundert eine konzentrierte, geschlossene Bauweise aus dem Platzmangel innerhalb des eng bemessenen Festungsareals zwangsläufig ergeben hatte, stand nun ein riesiger, freier Raum zur Verfügung, der, bei gesunkener Bevölkerungszahl, eine intensive Ausnutzung nicht unbedingt erforderlich machte.
Hinzu kam, daß geschlossene barocke Häuserfronten sowie eine dichte, konzentrierte Form des gemeinschaftlichen Zusammenlebens nicht mehr dem Zeitempfinden der Romantik und dem bürgerlichen Emanzipationsstreben entsprachen. In einem "individualistischen" Zeitalter wurden nun frei-stehende Bauten populär. Dabei konnte der bindungsfreie, losgelöste Einzelbau im Prinzip ohne größeren städtebaulichen Zusammenhang an jeder beliebigen Stelle stehen.(37)
Diese veränderte städtebauliche Auffassung, welche sich im neuen Bauen ausdrückte, entprang einer gewandelten geistigen Haltung. Französische Revolution und Befreiungskriege hatten Ideen von Freiheit, Unabhängigkeit und Autonomie ausgelöst. Daraufhin zog das junge, selbstbewußter auftretende Bürgertum in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts nach Möglichkeit in die freie, von natürlicher Landschaft geprägte Umgebung. Aber auch die Aristokratie hatte ihre Sommerhäuser seit dem Zeitalter der Empfindsamkeit inmitten von Landschaftsgärten am Stadtrand anlegen lassen.
Gerade in Dresden mit seiner so reizvollen Einbettung in das Elbtal entwickelte sich ein neues Landschaftsideal der bürgerlichen und adligen Gesellschaft. Es ist nicht verwunderlich, daß sich gerade hier ein kulturelles Zentrum der Frühromantik herausbildete. (38)
Die Demolierungs-Kommission versuchte, in ihren Bestimmungen diesen neuen Vorstellungen von naturnahem Stadtleben entgegenzukommen. Aber auch gesundheitspolitisch-hygienische Aspekte spielten eine Rolle. In erster Linie jedoch strebte man in dem neuen stadtgestalterischen Konzept eine Verflechtung von idealer Natur und reduzierter städtischer Urbanität an. Die Bewegung fand ihren Niederschlag in einer Art "Stadtflucht" oder Stadtabwendung.
Vorbilder sind in den Villenvororten englischer Industriestädte (suburbs) zu suchen, wo die Gesellschaft sich seit Ende des 18. Jahrhunderts in Landhäuser (cottages) zurückzog.

Dresden hatte mit den frühzeitig in den Stadterweiterungsprozeß eingreifenden Bebauungsplänen (Regulative) innerhalb Deutschlands eine gewisse Vorreiterrolle inne. Durch die relativ frühe Schleifung der Stadtmauer konnte in der Elbestadt weit eher als in anderen Festungsstädten eine Besiedlung der umgebenden Feldfluren stattfinden, die von gezielten planerisch-ordnenden Maßnahmen begleitet wurde. (39)

Wegen des angestrebten ländlichen Gartencharakters wurde es für die neuen Wohngebiete generell untersagt, Wirtschafts- oder Fabrikgebäude zu errichten, die in irgendeiner Weise Lärm, Rauch, üblen Geruch oder anderweitige Belästigungen verbreiteten. Auch das war eine wichtige Neuerung in der städtebaulichen Ordnung und innerhalb Deutschlands etwas Besonderes. Während noch einige Jahrzehnte zuvor häufig alle Arbeiten in einem Gebäudekomplex verrichtet wurden, in den Vorstädten z.B. der Stall dicht neben dem Wohnbereich lag, wurde jetzt in den neuen Vierteln aus hygienischen und gestalterischen Gründen eine strikte Trennung von Wohn- und Arbeitsort geplant.
Für neu zu errichtende Gebäude arbeitete die Demolierungs-Kommission in den Bauregulativen relativ strenge und detaillierte Vorschriften aus. Man gestattete nur zwei Stockwerke. Die hohen barocken Mansardendächer wurden gänzlich verboten. Statt dessen durfte die schlichte biedermeierliche Bebauung nur Walmdächer, deren Höhe niedriger als die halbe Haustiefe sein mußte, decken. (40) Die Einheitlichkeit des Straßenbildes wurde auch in der kubischen Form der Häuser angestrebt.

Thormeyer widmete sich mit besonderer Aufmerksamkeit den Umzäunungen der Neubauten. Diese stellten nicht nur ein ästhetisch-gestalterisches Element dar, sondern sie hatten auch eine wichtige raumbildende Funktion. (41) Da die geschlossene Fluchtlinie den zurückgesetzten Einzelbauten gewichen war, wurde versucht, durch Eisenzäune eine gewisse Raumordnung zu schaffen.(42) Die zusätzliche Regelung, hohe Bäume mindestens 5 Ellen von der Umzäunung in das Grundstück zurückzusetzen, sollte zugleich ein gänzliches Zuwachsen des Straßenraumes und damit eine "Verbuschung" der Stadt verhindern.

Verkehr

In Thormeyers Entwurf für die Neustadt von 1817 blieben wie im Hauptmannschen Plan von 1811 die Lage der Landstraßen und der alte Verbindungsweg zwischen den beiden Toren vor dem Festungsgelände (Schwarzes Tor im Norden, Weißes Tor im Westen) erhalten.
Gegenüber den früheren Plänen Hauptmanns wurde jedoch das umfangreiche Terrain durch eine größere Anzahl Straßen erschlossen. Dabei versuchte man, das neue Viertel vom Durchgangsverkehr frei zu halten. Der Wagenverkehr wurde verboten, und die Grundstücke durften zur Allee nur Pforten, keine Tore haben.
Das Prinzip der Achse Neustädter Markt - Hauptstraße - Rundplatz am Schwarzen Tor (später Bautzner Platz, jetzt Albertplatz) wurde konsequent durchgehalten. Als großstädtische Planung führte man aber die Achse nicht nach Norden weiter, da sich die alte Ausfallstraße (Königsbrücker Landstraße), wenige Meter links der Achse, dem rasch ansteigenden Gelände besser anpaßte. Auch auf Altstädter Seite wurden einige Verkehrsneuordnungen durch Thormeyer vorgenommen. Vor der Entfestigung war ein Zugang zur Innenstadt nur durch drei Stadttore möglich. Ab 1825 konnte die Zufahrtsmöglichkeit durch eine Reihe den Ring kreuzender Verbindungsstraßen erleichtert werden.
Die Demolierungs-Kommission befaßte sich aber nicht nur mit dem niederzulegenden Festungsbereich. Sie regelte das Stadtgefüge aus einem Gesamtzusammenhang heraus und klärte durch ein komplexes Erfassen verschiedene städtebauliche Probleme. So konnte u.a. in den Vorstädten eine direktere Anbindung der Zollschläge zur Innenstadt erreicht werden (z.B. Dippoldiswalder Schlag über Carolastraße).
Mit dem Ausbau des Environweges, der die Zollschläge miteinander verband, wurde eine bessere Kommunikation einzelner Stadtteile und ihrer Verkehrsbeziehungen erreicht. Allerdings gelang wegen komplizierter Eigentumsverhältnisse keine durchgängige Herstellung eines Weges entlang der Akzisebrettwand.(43)

Bei der Schleifung der Festungswerke Dresdens wurde aus Verkehrsgründen keines der alten, z.T. sehr prächtig gestalteten Stadttore (Wilsdruffer-, See- und Pirnaisches Tor) erhalten. Das einzige Tor (eigentlich Akzisehäuser), welches in Teilen bis heute bewahrt blieb, ist das Weiße Tor, eine klassizistische Neuschöpfung, die u.a. der Einnahme des Brückenzolles diente.

Organisation

Die Organisation der Stadtumgestaltung dieser Zeit erwies sich, hauptsächlich auf Altstädter Seite, als kompliziert und zeitraubend, da sich die Verhandlungen mit den Grundeigentümern und ihre hohen Entschädigungsansprüche langwieriger gestalteten als erwartet.(44) Widerstände gingen aber nicht nur von Grundbesitzern aus, sondern auch von einzelnen staatlichen Behörden, wie dem Geheimen Finanzkollegium, dem die Demolierungs-Kommission unterstellt war. Der bürokratische Instanzenweg wirkte bei der Durchsetzung des großen Projektes hemmend. Auch beeinflußte das jahrelange Ringen der Stadt um die Übernahme der Gerichtsbarkeit über das ehemalige Festungsgelände aus den Händen des Staates den Fortgang der Dinge negativ. Erschwerend trat noch der Umstand hinzu, daß die Kommission jährlich die Arbeiten zur Durchführung ihres Planes dem König zur Genehmigung vorzeigen mußte. Diese Bestimmungen hatten zur Folge, daß immer wieder über gewisse Teilarbeiten debattiert wurde und dabei die zusammenhängende Linie verloren zu gehen drohte.(45)
Schließlich waren im Jahre 1831 sämtliche Festungsmauern abgebrochen und die meisten Flächen bebaut bzw. in Parks umgestaltet.

Finanziert wurde das umfangreiche Projekt z.T. durch den Erlös der mit der Stadtumgestaltung verbundenen Grundstücksgeschäfte und Gewinnen aus dem Verkauf von Abbruch-Baustoffen. Einige Teile der Festungsmauer wurden auch auf Kosten privater Investoren abgerissen, so. z.B. die Bastion Sol, auf dessen freigewordenem Gelände der Drechslermeister Calberla 1819 eine Zuckerraffinerie errichtete.
Die staatlichen Flächen auf Neustädter Seite wurden zwischen 1817 und 1824 öffentlich versteigert.(46)
Für die Abrechnung sämtlicher Einnahmen und Ausgaben war die Demolations-Kommission dem Geheimen Finanzcollegium rechenschaftspflichtig, während das sonstige bürgerliche Bauen in Dresden dem Ziviloberbauamt unterlag. Dieses wurde mit der Konstituierung der Dresdner Baupolizei 1827 aufgelöst, als mit der Aufstellung einer neuen Bauordnung ein weiteres Kapitel der Baugeschichte in Dresden begann.

(33) Die Bevölkerung war von 63 209 Einwohner im Jahre 1755 auf 44 760 im Jahre 1772 gesunken. Nur allmählich stieg die Einwohnerzahl wieder. Noch 1830 hatte Dresden mit 61 890 nicht wieder den Stand vor dem Siebenjährigen Krieg erreicht. Vgl. Otto Richter, Verfassungs- und Verwaltungs- geschichte der Stadt Dresden, Bd.1, Dresden 1885, S. 201.
(34) HSTA, Loc. 37 742, Dresden Nr. 283e Vol. V., Acta, die Vererbung verschiedener Demolationsräume betr., Gutachten der Demolations-Kommission vom 18.Juli 1823.
(35) Vererbungsbedingungen für die Demolationsräume vor dem Schwarzen Thore, 11.Dezember 1826, in: Sammlungen.
(36) Vgl. Wolfgang Rauda, Lebendige städtebauliche Raumgestaltung. Asymmetrie und Rhythmus in der deutschen Stadt, Berlin (Ost) 1957, S. 211-262.
(37) Vgl. F. Löffler, Das Alte Dresden, 346f. Emil Kaufmann, Von Ledoux bis Le Corbusier. Ursprung und Geschichte autonomer Architektur, Wien 1933, S. 25-36. Julius Poesner, Vorlesungen zur Geschichte der Neuen Architektur (IV) - Die sozialen und bautechnischen Entwicklungen im 19. Jahrhundert, in: Arch+ 1982. Poesner beschreibt die Auflösung der Stadt als räumlichen Zusammenhang als eine bürgerliche Bewegung, indem "die Selbständigkeit der (architektonischen und städtebaulichen) Einzelteile gegenüber dem Gesamtverband wie die Selbständigkeit der Individuen gegenüber der gesellschaftlichen Bindung" stehen (S.6). Diese baukünstlerische Entwicklung führte über die Revolutionsarchitektur von Claude Nicolas Ledoux und Friedrich Gilly zu Schinkel und LennÜ. Die Letztgenannten gelten als Verfechter eines autonomen Prinzips in der Architektur, wo jedes einzelne Gebäude für sich selbst stehen muß.
(38) Vgl. Günter Jäckel, Dresden zur Goethezeit. Die Elbestadt von 1760 bis 1815, Berlin (Ost) 1987, S. 125ff.
(39) Innerhalb Deutschlands ist diese städtebaulich- planerische Lenkung im frühen 19. Jahrhundert nicht der Regelfall. In Frankfurt/Main z.B. vollzog sich die Bebauung des vorstädtischen Gartengeländes ungeordnet und weitgehend außerhalb der Kontrolle der Bauverwaltung. Vgl. Christoph Mohr, Hundert Jahre Wohnungsnot. Das Beispiel Frankfurt, in: Labyrinth Stadt. Planung und Chaos im Städtebau, Köln 1975, S. 71f.
(40) Diese Festlegung der Kommission stieß auf energischen Widerstand der Baugewerke, die erhebliche Einbußen durch die viel sparsameren flachen Dachkonstruktionen erlitten: "(..) da im allgemeinen zu bemerken ist, daß die Baugewerke die ungestalteten hohen Dächer begünstigen" (Vererbungsbedingungen für die Demolationsräume vor dem Schwarzen Tor, 11.12.1826, in: Sammlung, S. 146).
(41) Ausführliche Darstellung der Funktionen von Umzäunungen des 19. Jahrhunderts siehe bei A. Haufe, S. 113.
(42) In allen Regulativen dieser Zeit findet sich der dezidierte Hinweis auf eine ganz bestimmte Art der Umzäunung, z.B. wurde in dem Regulativ für das Viertel zwischen Neuen Anbau und Scheunenhöfen von 1828 "rücksichtlich der Einfriedung an allen Straßenfronten Staketerie mit steinernen Zocken und Pfeilern" gefordert, die "weder aus Mauer noch aus Brettwand" bestehen sollen" (HSTA, Loc. 35 267 Dresden Nr.124). Dieses bewußte Beharren auf transparente Umzäunungen unterstützte den allgemein angestrebten Gartencharakter der neuen Stadtviertel.
(43) Die Bewohner der Annenvorstadt hatten 1822 an die Demolierungs- Kommission ein Gesuch gerichtet, um die Verbindung ihres Stadtteils mit der Friedrichstadt zu verbessern (HSTA, 2356 Vol. XIV, Bl.153 flg.). Doch die Straße zwischen Freiberger und Löbtauer Schlag über eine neue Weißeritzbrücke kam erst Anfang der 1860er Jahre zustande.
(44) Ein Beispiel soll dies kurz verdeutlichen (nach F. Rötschke, S. 54ff): Der Kommissionsrat G. besitzt auf der Bastion Saturn ein Grundstück von 2824 Quadratellen (= ca. 930m2) mit verschiedenen Baulichkeiten, Bäumen, Gartenanlagen und Kasematten. Der Mietwert der Baulichkeiten und Kasematten wird auf jährlich 168 Taler geschätzt. Unter Zugrundelegung eines Zinsfußes von 5% stellen die Taxatoren den Betrag von 3720 Talern auf. G. fordert 6000 Taler. Zur Begründung seiner Forderung legt er einen Mietkontrakt vor, wonach er für die Vermietung eines Gewölbes den dreifachen Betrag der von den Taxatoren geschätzten Miete bekommt. Dieser Mietkontrakt erweckte wahrscheinlich Zweifel, denn G. kommt mit seiner Forderung nicht durch, er erhält nur den Taxwert.
(45) Vgl. F. Rötscke, S. 53.
(46) HSTA, Rep. XLIII. Dresden 265a. Bl.45b.