Bestimmungen der Hygiene

Auf hygienischem Gebiet gelang es der Baupolizei anfangs nur teilweise, ihre hoch gesteckten Ziele, wie sie in der Bauordnung formuliert worden waren, durchzusetzen. Es fehlte offenbar an genügendem Kontrollpersonal, die die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen überwachte, bzw. an einem wirksamen Justizsystem.
Ein Bericht des Dresdner Volksschulpädagogen Gustav Nieritz gibt aufschlußreichen Einblick in die mancherorts miserablen Wohnverhältnisse einkommensschwacher Bevölkerungsschichten während der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts:

Man überzeuge sich nur durch den Augenschein in welchen elenden Löchern und Winkeln die Armen wohnen, von welcher erbärmlichen Beschaffenheit die darin befindlichen Öfen, Türen und Fenster sind, welche ungesunde Lage über Düngerstätten usw. sie haben, wie Feuchtigkeit, Moder, Zugluft und Baufälligkeit sich darin vorfinden. Von der Regierung wird für die Erbauung von kleineren und wohlfeilen Wohnungen nicht nur nichts getan, sondern derselben im Gegenteile viele Hindernisse in den Weg gelegt. (...)
Man begünstigt oder läßt es wenigstens ungehindert geschehen, daß man bei Neubauten die höchst ungesunden Kellerwohnungen, die man früher in Dresden nicht kannte, herrichtet.
(73)

Dies steht als krasses Gegenbeispiel für das ansonsten eher glänzende Bild bürgerlicher Wohlhabenheit der Residenzstadt im 19. Jahrhundert. Der große Mangel an preiswerten Kleinwohnungen war durch eine starke Bevölkerungszunahme entstanden, die dem Hereinströmen arbeitssuchender Bauern aus der Umgebung und aus dem benachbarten Böhmen sowie einem erhöhten Geburtenüberschuß zuzuschreiben waren.(74) Das Anlegen von Souterrainwohnungen wurde erst ab den 50er Jahren in fast allen Regulativen verboten.

Gestalterische Forderungen

Auch auf gestalterischem Gebiet wurde durch die sich verbreitende liberal-freiheitliche Gesinnung ein straffes Durchsetzen ästhetischer Ordnungsprinzipien durch die Bau- und staatliche Oberbehörde immer schwieriger, welche bemüht waren, den Charakter einer Kunst- und Residenzstadt aufrecht zu erhalten. Hinweise in den Regulativen auf einen "edlen Stil" finden sich nur noch in Ausnahmefällen, wie z.B. für das Villengebiet an der Bürgerwiese von 1863.(75) Im fortschreitenden 19. Jahrhundert hatte inzwischen eine Auflösung einheitlicher Stilorientierungen stattgefunden.
Um der Unsicherheit der Baubehörde in gestalterischen Fragen abzuhelfen, nahm der Rat 1848 eine Reorganisation des Baupolizeiwesens vor. Es wurde ein Baupolizeiausschuss ins Leben gerufen, in dem alle Entscheidungen über Bausachen nicht durch Ratsvertreter allein, sondern durch eine gemischte Kommission, bestehend aus Stadtverordneten und namhaften Architekten , maßgebend sein sollte. Diese fachkompetende Mitsprache schien jedoch in manchen Fällen den Fortgang der Dinge mehr aufzuhalten als zu beschleunigen.(76)
Die Landesregierung drängte den Rat fortwährend, wieder gestalterische Forderungen in eine neu zu erarbeitende Bauordnung einfließen zu lassen. Sie schob einen Teil des ihrer Meinung nach unbefriedigenden Aufbaus auf die Mängel in den Bauvorschriften, "welche ästhetischen Forderungen zu wenig Rechnung tragen", die "Ausführung genialer Bauprojekte" verhindern und die "Uniformität zu sehr begünstigen", so daß die "Ausartung bis zur Monotonie leicht erklärlich wird". (77) Wie man jedoch gestalterische Maßgaben formulieren sollte, ohne Originalität und kreative Phantasie zu behindern, konnte auch die Landesregierung nicht erläutern.
Demgegenüber strebten die Stadtverordneten und verschiedene Interessengruppen dahin, den öffentlichen Einfluß im Baugeschehen weitgehend auszuschalten. Dabei argumentierten sie, Vorschläge über Baustil und architektonische Ästhetik zu unterschreiben sei nicht Aufgabe der Bauordnung, sondern solle von den Bauschulen und Bauakademien ausgehen. Ein Baugesetz darf, nach Meinung der Stadtverordneten, die die Interessen privater Bauunternehmer vertraten, nur eine Zusammenstellung derjenigen Bedingungen enthalten, an die der Bauende bei Ausführung von Baulichkeiten gebunden ist. Die Bestimmungen sollen also mehr "corectiver und verbietender als anordnender und gebietender Natur sein".(78) Dieser Standpunkt bürgerlicher Liberalität konnte sich schließlich gegen den Gestaltungszwang von Stadt und Landesregierung durchsetzen und floß in die erweiterte Bauordnung von 1866 ein. Dort wurden lediglich noch Empfehlungen ausgesprochen. Das Repräsentationsbedürfnis privater wie öffentlicher Bauherren, das Zurschaustellen von Prunk und Reichtum nahmen jedoch in den folgenden Jahrzehnten stark zu, daß diesen Empfehlungen immer weniger entsprochen wurde und die ekklektizistische Stilvielfalt mit ihren überladenen, oft maßstablosen Gebäuden der Stadt nicht immer zum Vorteil gereichte.(80)
Fragen architektonischer Qualität lassen sich wohl tatsächlich kaum durch administrative Maßnahmen durchsetzen. Um ein bestimmtes Niveau zu erreichen und zu halten bedarf es der Originalität führender Architekten, die Maßstäbe und Orientierungen vermitteln. Den größten Einfluß auf die architektonische Entwicklung Dresdens hatte in dieser Hinsicht zweifelsohne der von 1834 bis 1849 wirkende Baumeister Gottfried Semper, der auch auf städtebaulichem Gebiet für die Stadt Entscheidendes geleistet hat.

(73) Gustav Nieritz, Die Armen, Selbstbiographie, Leipzig 1872, S. 351.
(74) Bevölkerungsentwicklung Dresdens bis zur Jahrhundertmitte:
1834 - 73 614; 1840 - 82 014
1846 - 89 327; 1852 - 104 200
Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Dresden, Dresden 1925. Über den Prozeß der modernen Verstädterung in Sachsen, als einem der sich am schnellsten entwickelnden Industrieländer Deutschlands, siehe: Volkmar Weiss, Bevölkerung und soziale Mobilität in Sachsen 1550 - 1880, Berlin 1993, S. 125ff.
(75) "Alle Hauptwohngebäude müssen entweder den Charakter von in edlem Stil gehaltenen Villen oder doch von eleganten und geschmackvollen Gartenhäusern an sich tragen. Dabei ist (...) auf thunlichste Mannichfaltigkeit und Abwechslung der Formen und Fassaden der Gebäude Bedacht zu nehmen." Regulativ für die Bebauung des innerhalb des Stadtbezirkes gelegenen Terrains zwischen der äußeren Bürgerwiese und der sächs.- böhm. Eisenbahn, 4.9.1863, In: Sammlung, S. 181.
(76) Der Rat versuchte 1855, das Mitspracherecht der Stadtverordneten im Baupolizeiausschuß wieder rückgängig zu machen, da "die Deputierten der Bürgervertretung den Arbeitsgang nur erschwerten" (HSTA, MdI 11 467, Revision der Dresdner Bauordnung vom 2.4.1855). Es kam aber zu keiner Veränderung der Zusammensetzung.
(77) RA, C XVIII 134, Regulativ für die Organisation der Dresdner Polizei- Behörde..., 25.4.1857.
(78) RA, A XXIII 150. Vol.3, Die Bauordnung betreff., 1.12.1865.
(79) Der 35 wies z.B. darauf hin, daß sich die Architektur aus ihrem Zweck, ihrer Lage und Umgebung ergeben und angemessene Verhältnisse und Formen enthalten solle. Vorbaue, Erker und Balkone sollten sich nicht als fremdartige, sondern organische Teile aus dem Gesamtbau entwickeln. Die Ornamente "sind in bedeutsamen und edlen Formen auszuführen, und alles Charakter-, Wirkungs- und Sinnlose, sowie Überladungen zu vermeiden", Die neue Bauordnung ..., Dresden 1866, S. 47.
(80) Vgl. Volker Helas, Architektur in Dresden 1800 - 1900, Dresden 1991, S. 58.