4. Zweite Phase der Stadtentwicklung Dresdens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts


1827 starb König Friedrich August I. nach fast 60jähriger Regierungszeit. Durch seine zögernde Haltung in den Befreiungskriegen hatte er Sachsen bis an den Rand des Abgrundes gebracht. Doch anstatt eines jüngeren Thronfolgers bestieg der ebenfalls bereits siebzigjährige Bruder des verstorbenen Königs - Anton, "der Gütige" - den Thron, der das Land bis 1836 regierte. Entscheidende politische Reformen, wie eine kraftvolle Gestaltung der Residenzhauptstadt, wie sie den Landesherren des 18. Jahrhunderts noch möglich war, konnte man von dem ebenfalls farblosen König nicht erwarten. Doch bevor 1830 eine starke bürgerliche Bewegung zu einschneidenden politischen Veränderungen ansetzte, brachte die staatliche Baupolizei noch ein Gesetz zur Verabschiedung, das entscheidende Weichenstellungen für die weitere städtebauliche Entwicklung Dresdens vorgab - die "Allgemeine Bauordnung" von 1827.

4.1 Auswirkungen der Allgemeinen Bauordnung von 1827

Seit 1720 bestand in Dresden eine Bauordnung, die sich im Barockzeitalter vor der Entfestigung als äußerst günstig für eine einheitliche Stadtgestaltung erwiesen hatte. Diese herausragende Bauordnung hatte u.a. zu eindrucksvoll geschlossenen Straßenbildern geführt. Aber eine feste Bauordnung gab es in Dresden bereits in der Frührenaissance, von Herzog Albrecht 1491 erlassen. (50) Dresden konnte somit auf eine lange Tradition bewußter Stadtgestaltung mit klaren Bauvorschriften zurückblicken und auf diese aufbauen. Die barocke Bauordnung von 1720, so ausgefeilt sie zu ihrer Zeit auch gewesen sein mag, war den Anforderungen der nunmehr offenen Stadt Dresden nicht mehr gewachsen. Nachdem seit 1813 eine ganze Reihe Baubeschränkungen für die Vorstädte aufgehoben worden waren, hatten private Bauherren vor den ehemaligen Toren der Stadt nach eigenem Gutdünken Häuser errichtet. Manche verwendeten bei ihrem Häuserbau die alten barocken Mansardendächer, einige die klassizistischen flachen Walmdächer.
Die nachteiligen Auswirkungen planloser Bautätigkeit hatte die Baubehörde, das Stadt-Polizei- Collegium, erkannt und ging mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln dagegen vor. Hier ein Beispiel: Der Hofzimmermeister Neisse hatte vor dem Pirnaischen Schlag 1826 ein Stück Land erworben, welches er weiter parzellieren wollte, um die einzelnen Grundstücke mit Wohnhäusern zu bebauen. Diesem Vorhaben begegnete man mit einem Bauverbot. Aufschlußreich sind die Argumente, mit welchen die Baubehörde gegen den Bauunternehmer vorging. In dem Gutachten einer Expertenkommission heißt es: Ein Bau, der "nur dazu beitragen muß, den schönen Eindruck zu vermindern, den die freundliche Landschaft bey dem Ausgang der Pirnaischen Vorstadt von allen Seiten dem Auge gewährt", dürfe unter keinen Umständen zugelassen werden. Anderenfalls

würde bey der vorhandenen Baulust die Möglichkeit eintreten können, daß jeder Besitzer eines der Stadt angrenzenden Felder nach eigener Willkür Gärten mit Mauern einfriedigen und Häuser erbauen, und hierdurch in kurzer Zeit die schöne Residenz durch ein ungeregeltes Chaos von Häusern und Vermachungen umgeben und verunstaltet werde. Die freundliche Seite sollte erhalten und die unfreundliche (...) verziert und verdeckt werden.(51)

Um solchen Gefahren planloser Stadterweiterung und unregelmäßiger Bauweise zu begegnen, entschloß sich die Bau-Polizei zum Aufstellen einer neuen Bauordnung, welche am 12.August 1827 als "Allgemeine Bauordnung für die Haupt- und Residenzstadt Dresden" zur Verkündung kam.(52) Sie enthält in 132 Paragraphen Vorschriften für alle Teile des privaten Bauwesens und geht vielfach so tief in die Einzelheiten ein, wie es bei den bisher in Geltung gewesenen Reglements nicht entfernt der Fall war. Als Hauptgrundsatz der Baupolizei wird in § 7 aufgestellt: "Niemand darf der öffentlichen Sicherheit, Wohlfahrt und Zierde hiesiger Stadt zum Nachteil bauen".(53) Zu diesem Zweck strebte die Baupolizei einheitliche Verhältnisse in allen Teilen der Stadterweiterungsgebiete an und eine verbindliche Regelung des Bauwesens, mit Ausnahme der Staats- und Militärbauten.
Einige Punkte der neuen Bauordnung, die besondere Auswirkungen auf das Stadtbild Dresdens hatten, sollen hier kurz aufgeführt werden.

An erster Stelle findet man in dem Gesetzeswerk eine ganze Reihe von Anordnungen zur Gewährleistung des Feuerschutzes als oberstes Gebot, so z.B. die Forderung, daß Fachwerk nur noch im oberen Geschoß zulässig sei (§ 30) und daß Stroh-, Rohr- und Schindeldächer durch eine Ziegeldeckung ersetzt werden mußten (§ 38). Die Errichtung hölzerner Häuser wurde generell untersagt. Vorhandene sollten bei Baufälligkeit abgerissen und durch steinerne Bauten ersetzt werden (§ 32). Diese Regelung zielte, gestützt auf die Erfahrungen der verheerenden Kriege und Brände vergangener Jahrzehnte, auf die bessere Feuersicherheit von Steinhäusern. Mit dem Verbot von Holzhäusern strebte man aber auch einen gehobenen, repräsentativen Charakter der Hauptstadt an.
Zum Brandschutz gehört auch eine Bestimmung über die Entfernung der Scheunen in den Vorstädten (§ 28). Damit verschwand endgültig der Typus des Ackerbürgerhauses zugunsten des städtischen Wohnhauses und gleichzeitig zugunsten eines urbanen Straßen- und Platzbildes.

Im fünften Abschnitt der Bauordnung, das sich mit "der äußeren Beschaffenheit der Gebäude in Beziehung auf Sicherheit und Freiheit der Passage" befaßt, steht unter § 66 ein Verbot des Anpflanzens von Bäumen, Weinstöcken oder sonstiger Art von Strauchwerk vor den Häusern der Alt- und Neustadt. Diese Regelung erwuchs aus dem Bemühen, die ohnehin sehr eng bemessenen Verkehrswege der Innenstadt durch Bäume oder Gartenanlagen nicht noch weiter zu verschmälern. Andererseits verfolgte man die Absicht, Dresden im Kernbereich einen mehr städtischen Charakter zu verleihen.
Kapitel 8 "Von der Regelmäßigkeit und Schönheit bei Bauen" bringt unter dem § 95 eine für die Erweiterung der Stadt bedeutungsvolle Anordnung, nach der die Bebauung neuer Plätze stets nach einem von der Baubehörde vorher ausgearbeiteten Plan zu erfolgen hatte. Dabei sollte auf die Anlegung gerader, möglichst breiter Straßen und großer Plätze geachtet werden. Bernhard Geyer wertet diesen Paragraphen in Hinsicht auf die weitere städtebauliche Entwicklung Dresdens als sehr bedeutungsvoll, "da durch sein Inkrafttreten eine gesetzliche Grundlage zu einem geordneten Stadtplanungswesen geschaffen wurde".(54)
Wesentlich für das äußere Erscheinungsbild der sächsischen Residenz war die Gliederung der Gebäudehöhen in vier Kategorien bzw. die Einteilung des gesamten Stadtgebietes in Bauzonen. Folgende Differenzierungen der Etagenhöhen wurden festgelegt:

a) auf Märkten und anderen freien Plätzen höchstens 5 und mindestens 3 Stockwerke (höchste Höhe 45 Ellen = 25,5m),
(eine sächsische Elle = 0,584 Meter)
b) auf breiten Straßen 3 - 4 Stockwerke (höchste Höhe 39 Ellen = 22,10m),
c) auf mittleren Straßen 2 - 3 Stockwerke (höchste Höhe 33 Ellen = 18,70m),
d) auf schmalen Straßen ebenfalls 2 - 3 Stockwerke (höchste Höhe 25 Ellen = 14,15m).

Die Einteilung in Zonen unterschiedlicher Gebäudehöhen stellt eine wichtige Regulierung städtischer Dichte dar. Durch das Prinzip, hohe Bebauung im Zentrum - zur Peripherie immer niedriger werdend, konnte eine dynamische Staffelung des Stadtgefüges erreicht werden. Diese Dresdner Regelung einer räumlichen Abstufung, in der Tradition barocker Stadtbaukunst stehend, blieb im Städtebau Deutschlands im 19. Jahrhundert eher eine Ausnahme.(56) "Mit Rücksicht auf den mehr ländlichen Charakter der Umgebung und sonstiger Ortsbeschaffenheit" behielt sich die Baupolizeibehörde jedoch das Recht vor, Häuser, die ihr an sensiblen Stadtstellen zu hoch erscheinen, mit weniger Stockwerken zu bestimmen. Bemerkenswert ist allerdings, daß in die Kategorie a), die für die höchste Bebauung vorgesehen war, auch die Stelle "an der Elbe"/Neuer Anbau eingeordnet wurde. Man kann vermuten, daß - obwohl eine Beeinträchtigung des Maßstabes und der Blickbeziehungen riskiert wurde - die Beamten der Gedanke leitete, die von August dem Starken angestrebte Aneinanderreihung von opulenten Prachtgebäuden entlang des Stromes weiterzuführen. Für die Wohnhäuser strebte man, ganz den Architekturidealen der Zeit verpflichtet, einen einfachen und schlichten Baustil an. Im § 108 der Bauordnung heißt es: "Bei architektonischen Verzierungen der Häuser ist auf edlen und einfachen Stil zu sehen, Überladungen und Mißverhältnisse sind aber zu vermeiden." Die Anwendung von Säulen soll dem "ganzen Charakter des Gebäudes" entsprechen. Daher unterliegen sie, wie auch die architektonischen Verzierungen, der "Berichtigung der Baubehörde" (§ 109).
Desweiteren bestimmte die Kommission die Form der Dächer (keine Mansardendächer mehr, stattdessen flachgeneigte Dächer) und den Abputz der Häuser (§ 110 "es ist lediglich eine der Farben aus den Musterblättern zu wählen"). Die Behörde kontrollierte die proportionalen Verhältnisse der Türen und "möglichst großen" Fenster zur Etagenhöhe ( § 105). Sogar die Anwendung von Säulen sowie anderer Verzierungen - wie Inschriften, Schildereien oder Basereliefs - "unterliegen der Berichtigung der Baupolizeibehörde" bzw. "sind der Genehmigung der Polizeibehörde zu unterwerfen" (§ 111).
Die Kommission versuchte zur Gewährleistung eines einheitlichen, harmonischen Stadtbildes, Vorschriften so streng wie möglich zu definieren. Dabei ist jedoch eine gewisse Schematisierung nicht auszuschließen. Die Gestaltungssatzung artete sogar, nach Meinung Geyers, in einem "Diktat" aus, weil sie "dem Architekten praktisch keinerlei Gestaltungsspielraum gestatte und den Bauherrn entmündige".(57) Im Interesse stilistischer Einheitlichkeit wäre in dem Gesetzes-werk dem Ermessen der Baubehörde ein zu großes Maß an Entscheidungen freigestellt, so daß dadurch eine doktrinäre Handhabung möglich werde.
Die neue Bauordnung war tatsächlich starken Angriffen ausgesetzt. Wieder waren es die Baugewerke, die sich empört über eine allzu starke Regelmentierung zeigten. Ihre Kritik spricht von den vielen "Dispositionen, welche auf die Localverhältnisse, die hier im Handel begriffenen Baumaterialien, die Bedürfnisse und finanziellen Umstände der Bewohner nicht im mindesten berechnet und daher zur praktischen Anwendung gar nicht geeignet sind".(58) Das Prinzip der persönlichen Freiheit müsse mehr beachtet werden, "daß jeder Bürger sein Eigentum und die darauf bezüglichen Etablissements auf seine individuellen Bedürfnisse unabhängig von fremden Einmischungen berechnen kann".
An dieser Stelle offenbart sich die noch heute aktuelle Frage, wieweit sich kommunale (oder staatliche) Verwaltungsstellen in den lebendigen Stadtbauprozeß einmischen können und sollen, und ob diese lenkenden Eingriffe durch übermäßige Verordnungen die vielseitige und spannungsreiche Stadtbauentwicklung zu einer schablonenhaften Einseitigkeit verengen können. Schließlich wurden in Dresden durch die neue Verordnung von 1827 lange Bautraditionen in vielen Bereichen abgebrochen.
Im Fall der neuen Dresdner Bauordnung, so scheint es, überwog jedoch insgesamt der Nutzen den Schaden. Wurden auch die Rechte persönlicher Freiheiten eingeschränkt, erwiesen sich doch die strengen Regelungen neben der Abwendung von Brandgefahren als geeignet, die krassesten Auswüchse schnellen städtischen Wachstums, vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, abzuwenden. Von anderen deutschen Städten ist bekannt, daß eine lockerere Baugesetzgebung zu einer oft chaotisch anmutenden Stilvielfalt und Stadtgestaltung im 19. Jahrhundert führte. (59)
Schließlich ist der relativ frühe Zeitpunkt der Dresdner Bauordnung hervorzuheben; Berlin z.B. erhielt erst 1853 eine neue Bauordnung.

Abgesehen von sicherheitstechnischen und ästhetischen Fragen bemühten sich die Schöpfer der neuen Dresdner Bauordnung auch um Einhaltung hygienischer Grundforderungen. Im sechsten Teil - "Von der Einrichtung der Gebäude in Beziehung auf Gesundheit und Reinlichkeit" wurde den einzelnen Punkten die allgemeine Regel vorangestellt: "Kein Gebäude darf so eingerichtet werden, daß für die Gesundheit der Bewohner irgend ein Nachteil zu besorgen sei, und müssen die Wohnungen in solchen Luft, Licht und Raum in den erforderlichen Maße enthalten." Diese modernen hygienischen Forderungen stellten in den Bauordnungen des frühen 19. Jahrhunderts keinesweges eine Selbstverständlichkeit dar.(60) Den hohen Ansprüchen konnte allerdings um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als ein starker Bevölkerungszuwachs in der Stadt zu verzeichnen war, nicht immer Rechnung getragen werden (z.B. Vermietung von Kellerwohnungen).(61)

Trotz ihrer reformerischen Ansatzpunkte erwies sich die Bauordnung als unzureichend. Wie schon erwähnt, setzte ein Großteil der Kritik bei einer vermeintlichen Willkür der Baubehörde an. Dazu kamen Rechtsstreitigkeiten und Unzulänglichkeiten, die aus der wachsenden Bautätigkeit insgesamt resultierten.
Um diese Mängel und Lücken der Bauordnung von 1827 auszubessern, wurde bereits 1831 der Entwurf einer neuen Bauordnung aufgestellt. 1866 erschien eine überarbeitete und erweiterte Fassung der Bauordnung. Erst 1905 kam dann eine auf die Bedürfnisse einer modernen Großstadt zugeschnittene Bauordnung zustande.


(50)Vgl. B. Geyer, Das Stadtbild Altdresdens, S.33.
(51) HSTA, Loc. 35 851 Dresden, Nr.305, Acta, die Erweiterung der Vorstädte betr., 1826/31.
(52) Die Allgemeine Bauordnung von 1827 ist abgedruckt in: Sammlung, S.54- 82.
(53) ebd., S. 55
(54) B. Geyer, Das Stadtbild Altdresdens, S. 49.
(56) Vgl. Peter Schöller, Die Großstadt des 19. Jahrhundert, in: Stoob, Heinz (Hrsg.), Die Stadt - Gestalt und Wandel bis zum industriellen Zeitalter, Köln/Wien 1985, S. 300.
(57) B. Geyer, Das Stadtbild Altdresdens, S. 51.
(58) RA, A XXIII 81, Ohnmaßgebliche Bemerkungen über die Allgemeine Bauordnung .., 1830. Insbesondere traf es die Zunft der Zimmerer schwer, die nun weder Fachwerkhäuser, noch Gänge, Galerien, Treppen oder Schindeldächer aus Holz fertigen durften.
(59) Vgl. Karl Gruber, Die Gestalt der deutschen Stadt, München 1977, 189f.
(60) Vgl. Marianne Rodenstein, "Mehr Licht, mehr Luft". Gesundheitskonzepte im Städtebau seit 1750, Frank- furt/Main/New York 1988. Die Verfasserin behauptet z.B. "daß in den ersten bürgerlichen Bauordnungen die Baufreiheit noch kaum durch gesundheitliche Rücksichten eingeschränkt war", S. 68.
(61) Nach den schweren Anfangsjahren dynamischer Industrialisierung der Stadt wurden die gesundheitlichen und hygienischen Anstrengungen der Stadtkommune allerdings zum Ende des Jahr- hunderts für ganz Deutschland vorbildlich, so daß sich die Stadt um die Jahrhundertwende und den folgenden Jahrzehnten zu einem Zentrum der Hygieneforschung entwickelte.